Der berühmte Komponist und Klaviervirtuose Kilian
Krautwurst stand am offenen Grab auf dem hässlichsten aller
New Yorker Friedhöfe und trenzte lautlos vor sich hin.
Als junger Mann hatte er in Boston den mit 100 Dollar versehenen
Frederic-Chopin-Kunstpreis errungen und damit seine glänzende
Laufbahn als international anerkannter Virtuose begonnen.
Seine Urgroßeltern waren vor geraumer Zeit aus Europa, genauer
aus Niederbayern in die Staaten eingewandert. Kilian hatte die
High School in Newark besucht, hatte am Boston-Konservatorium
studiert und war mit einem Cum Laude im Abschlusszeugnis ins Leben gestartet.
Inzwischen kannte er viele Konzertsäle des Landes.
Krautwurst hatte den Familiennamen der Altvorderen der Originalität
wegen beibehalten und sie zur Marke ausgebaut.
Der Beginn seines Schaffens hatte erst vor ziemlich genau zehn
Jahren begonnen. Vorher hatte man ihn nur auf kleineren Bühnen erleben können.
Einen der Anfangserfolge hatte er dem Walter-Kerr-Theater auf der 48. Straße am New Yorker Broadway zu verdanken. Dort war – von einer Laienspielgruppe – ein 40minütiges Singspiel mit dem Titel „Die Be-
kehrung des Christopher Columbus“ in B-Moll für Chor, sieben Celli und
eine Pikkoloflöte uraufgeführt worden. Das Singspiel fand zwar keine
Wiederholung, jedoch ein umso größeres Medienecho – wenn auch vernichtend – sodass der einprägsame Name von Kilian Krautwurst im allgemeinen Kunstgedächtnis haften geblieben war.
Stand später auf einer Ankündigung für ein Concert in der Carnegie Hall oder in der Met sein Name, konnte der Veranstalter sicher sein, dass das Haus ausverkauft sein würde.
Inzwischen war Kilian Krautwurst 79 Jahre alt, dreimal geschieden,
kinder- und fast zahnlos, Besitzer eines Albino-Rauhaardackels sowie Träger verschiedenster Auszeichnungen.
So hatte er, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, den Internationalen Musikpreis Sacra Nova gewonnen, hatte den Val Tidone International Music Price der Fondazione Val Tadone errungen, oder den Gustav-Mahler-Kompositionspreis der Stadt Vermont – gegen 45 Konkurrenten – für sich entschieden. Jetzt erwartete er den Polar-
Music-Price für Musik.
Sein Oevre umfasste vier Opern. Die Uraufführung der Speed-Oper „Schreck lass nach“ (Dauer 16,43 Minuten) an der Alberta HighSchool im ländlichen Bismarck, Dakota vor elf Jahren führte wiederum zu einem beachtenswerten Eklat. Zwei Schülerinnen verließen kurz vor Ende der Vorstellung schreiend das Auditorium. Außerdem flogen Bio-Nüsse, Bio-Chips, Bio-Tomaten und Gurken (NoBio) auf die Bühne. Dazu eine leere Kondompackung mit der Nachricht „Den Storch, der dich gebracht hat, hätte man im Anflug erschießen müssen“.
Der empörte Meister trennte sich nach dieser üblen Erfahrung um-
gehend von seinem Librettisten, den er für den Misserfolg verantwortlich machte.
Es folgten 49 Oratorien, 33 Orgelwerke, 16 Choräle, eine Elegie sowie ein Requiem, das er sehr frei an Mozarts Arbeit angelehnt hatte. Dieses Werk war reserviert für das eigene Begräbnis.
Im Augenblick arbeitete er täglich 16 Stunden an einem Kammerkonzert
für 12 Flöten und ein Horn, unterstützt von einer Balalaika und einer Maultrommel. Dies würde alles bisherige in den Schatten stellen.
Das Werk entwickelte sich nach den Regeln der Reihentechnik aus der Wiener Schönberg-Schule, unter ausschließlicher Verwendung kalibrierter Obertöne. Die gefürchtete Krebsumkehrung umging er galant.
Alles in allem stellte es eine sämtliche Resourcen fordernde Tätigkeit dar für den alternden Komponisten.
Und genau jetzt, in diesem schwierigen Moment, war die Katastrophe, der Worst Case, sein persönliches Fukushima, eingetreten.
Kilian fand kein Taschentuch; alles aufgebraucht und weggeschmissen.
Für den heutigen traurigen Anlass trug er einen schwarzen Samtanzug
mit breitem Revers, dazu den roten Borsalino-Hut (sein Markenzeichen), der ein wenig kokett auf dem üppigen Haarschopf thronte.
Seine Zähren fielen haltlos auf das schwarze Sakko und zogen eine nasse Bahn hinunter zu den ebenfalls schwarzen Lackschuhen, auf denen die Tropfen erschöpft zersprangen.
Den gewaltigen Bauch des Grand Seigneurs umspannte die massige
Goldkette mit der goldenen Taschenuhr seines Großvaters, worin die Worte LIBERALITAS BAVARICA in Kabinett-Fraktur-Lettern eingraviert waren – eine Inschrift über dem Kirchenportal des Augustiner-Chorherrenstiftes Polling aus dem fernen Bayern vom 18. Jahrhundert.
Soeben verschwanden die letzten Töne der vor Jahren entstandenen Symphonie „Dies diem docet – Ein Tag lehrt den anderen“ in As-Dur im wolkenverhangenen Himmel über dem Big Apple.
Der Priester trat, flankiert von zwei Meßdienern, den Rückweg zur Aus-
segnungshalle an, wo bereits der nächste Trauergang wartete.
Kilian Krautwurst war allein mit sich und seinen trüben Gedanken.
Wie sollte sein Leben jetzt weitergehen? Wie konnte er sich morgens von
seinem Lager erheben, ans Pult gehen, und Ton für Ton die zuvor am
Klavier vernommene Inspiration in Noten kleiden?
Wie konnte er, nach diesem dissonanten Schicksalsgong, jemals wieder
vor die Tür treten, sich auf den großen Bühnen dieser Welt sehen und
sich als Maestro von der Fachpresse feiern lassen?
Der Magen meldete sich. Das war ein äußerst schlechtes Zeichen. Immer dann, wenn Ungemach drohte, meldete sich der Magen. Ein Erbe einer Tante mütterlicherseits.
Jetzt galt es, auf die Ernährung zu achten und nur die passenden Speisen einzunehmen. Vielleicht hätte er gestern keine Pizza mit Gorgonzola
und rohem Schinken verzehren sollen – nun war es zu spät. Vermutlich trug auch der herbe Rotwein aus den Abbruzzen das Seine dazu bei.
Er krümmte sich vor Schmerz. Seinem Mund entfuhr ein verzweifeltes dreigestrichenes B.
Dieser Ton veranlasste einen dürren Mann, ihm näher zu treten. Er trug einen abgewetzten Trenchcoat; ein kalter Zigarettenstummel hing müde im linken Mundwinkel. Von der Schulter baumelte eine Fotokamera.
„Hi, Meister Krautwurst!“
Der Meister knurrte: „Was wollen Sie?“
„Edi Ransome vom Chronicle …“
Krautwurst nickte.
Er kannte Ransome von verschiedenen Anlässen. Der Mann gerierte sich
gern als Musikkritiker, obwohl er von Tuten und Blasen nicht die
Spur einer Ahnung hatte. Genausogut hätte der Bursche über die Zusammensetzung von Bockmist schreiben können. Ransome arbeitete für den Regenbogen und den Boulevard und entblödete sich nicht, auch
mal eine Story ohne Wahrheitsgehalt zu „bauen“. Das nannte er – wenn sie ihm wieder mal auf die Schliche gekommen waren – die Darstellung
alternativer Fakten.
„Hi Ransome …“, sagte Krautwurst verdrossen. Er suchte weiter
verzweifelt nach einem Taschentuch in den Weiten seines Anzuges.
Edi spuckte den Zigarettenstummel aus. Mit wichtiger Miene zückte er
den Notizblock.
„Plötzlicher Todesfall, Meister Krautwurst?“
„Was geht Sie das an?“
Edi Ransome schniefte unterdrückt.
„Die Öffentlichkeit nimmt Anteil an Ihrem Leben, Sir. Das sollten Sie eigentlich wissen. Schließlich sind Sie eine Ikone der Kompostier-
Technik.“
„Der Komponiertechnik, Edi: Kom-po-nie-ren. Von lateinisch com-po-
ne-re; id est: zusammenlegen, zusammensetzen.“
„Meine Worte, Meister“, fuhr Edi unbekümmert fort, „und deshalb frage ich Sie noch einmal bei allem nötigen Respekt: Plötzlicher Todesfall? Oder warum befinden wir uns heute auf diesem grundhässlichen New Yorker Leichenfeld?“
Meister Krautwurst zierte sich, hüstelte, wandte sich ab.
Der Journalist befürchtete, Meister Krautwurst würde den Cemetery wortlos verlassen und sich der Trauer zuwenden.
Aber einer wie Edi Ransome gab sich nicht so leicht geschlagen.
„Ich brauch eine Story, Mann!“
Der Andere stockte, gab sich einen Ruck: Es war sowieso egal.
„Sie hieß Patty …“ hauchte er.
Edi formte ein lautlos riesiges Oihhh …
In seinem dreckigen Hirn fiel eine Klappe. Darauf stand in Leuchtschrift:
„Schweinereien – Orgien – Ehebruch“
Dabei dachte Edi an seine eigene, glorios gescheiterte Ehe. Cora hatte
sich für alles und noch mehr gerächt. Sie hatte ihn weder geschlagen, noch war sie mit dem Bügeleisen auf ihn losgegangen.
Cora hatte zwei Flaschen (in Worten: ZWEI Flaschen) Abführmittel in
das Chilli con Carne gemischt und die Klorollen weggeräumt.
Und dennoch waren sie als Freunde voneinander gegangen.
Ehebruch schied jedenfalls bei der Krautwurst aus; der Kerl war
geschieden. Alles andere aber passte. Wahrscheinlich war die süße
Patty das Nebengeräusch des Lüstlings gewesen.
Vor Edis Geist stiegen heiße Fantasien wie Flammenzungen in den
grauen New Yorker Himmel.
Patty im Pool – nackt. Patty in der Küche – ebenfalls unbekleidet.
Patty in freier Natur – verfolgt von dem Krautwurst seinem Schlauch unterm Bauch. Es war, wie der legendäre Theo Kojak beim Einsatz in Manhattan gesagt hätte: Entzückend!
Edi feuchtete Zunge und Stift an. Machte sich bereit für den groß-
artigen Scoop, der ihm den Weg zum Pulitzerpreis ebnen würde. Er
straffte sich und sagte behutsam:
„Wie lange ging´s denn schon?“
Kilian Krautwurst hatte endlich ein Papiertaschentuch (das letzte
in der verdammten Packung) gefunden und rotzte ausdauernd
hinein. Erst dann bequemte er sich zu einer Antwort.
„Exakt neun Jahre, vier Monate und neunundzwanzig Tage.“
Edi´s Blick schmierte ab in die Ferne. Die kleine Patty musste ja
ein strammes Mädel gewesen sein, wenn es der Meister derart
lange mit ihr ausgehalten hatte.
Edi musste unbedingt mehr über die Lebensabschnitts-Partnerin des
Meisters herausfinden. Wieder glitt seine Zunge über die Lippen.
„Wie alt war sie denn?“
Krautwurst stieß den kleinen Finger wie einen Rammbohrer in die Nase.
Diesen Tick hatte er seit Schulzeiten. Immer, wenn er nervös
wurde oder ihm die Situation aus den Händen zu gleiten begann,
rammte er einen Finger, meist den kleinen, in eines der Nasenlöcher.
Welches, war egal. Jetzt war es wieder so weit gewesen. Denn
jetzt zerrann ihm alles zwischen den Fingern.
„Fünfzehn …“, knurrte er.
In Edis verkorkstem Zwischenhirn fiel der Große Schalter.
Ein elender Kinderschänder stand vor ihm. Wer weiß, dachte Edi beiläufig, wo die Krautwurst überall seine Nase (seine Finger) hinein gesteckt hatte.
Jedenfalls wuchs sich die Story langsam zu einer echten Sensation aus:
„Pädophiler Komponist erwürgt minderjährige Gefährtin beim Liebesakt.“
Nein.
Das musste kürzer, prägnanter, böser klingen:
„Minderjährige von Pädophilem gemeuchelt.“
Gemeuchelt war on top. So musste die Überschrift, die Headline in knallroten Lettern auf der Titelseite der New York Times landen.
Natürlich war sich Edi im Klaren darüber, dass man das Thema „Kinderschänder“ ernst nehmen musste und nicht damit herum spielen durfte. Aber Edouard Ransome sah sich seit geraumer Zeit als investigativer Journalist. Solch unerschrockene Männer brauchte
das Land in Zeiten des verrückten Blonden an der Spitze der
Regierung in Washington dringender denn je.
Edi unternahm einen erneuten Versuch.
„Wie war sie denn so … ich meine … im Real Live?
Krautwurst zögerte kurz.
„Wie soll ich sagen …“
Sofort hakte Edi nach.
„Sie war wohl eine richtig scharfe Mieze?“
„Scharfe Mieze dürfte übertrieben sein.“
Mit riesigen …“
„Pfui Deibel, Edi!“
„…Augen.“
„Wie darf ich das verstehen?“, unterbrach Krautwurst irritiert das Gespräch. Es lief eindeutig in die falsche Richtung. Hilfeheischend schickte er einen Blick zum Himmel.
„Und einem Gang wie eine Löwin.“
Edi konnte sich Patty gut vorstellen. Pattys konnte Edi sich immer gut vorstellen.
Volle Lippen, tolle Titten, geiler Arsch. Und das mit fünfzehn.
Hätten die Bullen die Krautwurst mit Patty in flagranti erwischt, so hätte er
ganz gewiss eine behagliche Doppelzelle in Tucson, Arizona, mit Brian Mitchell gekriegt.
Zu ihrem Glück war Patty vorzeitig von ihnen gegangen.
Eine Weile standen sie schweigend im Nieselregen. Dann sagte
Edi Ransome möglichst harmlos:
„Wie ist sie denn verschieden … ich meine … verstorben?“
Wieder seufzte die Krautwurst und schniefte dabei derart ins Taschentuch, dass dieses sich auflöste und der Meister
den Rotz plötzlich auf der Handfläche hatte. Er schüttelte ihn
achtlos von sich.
„In meinen Armen.“
„OuihOuihOuih …“ entfuhr es Edi, was ihm einen vernichtenden
Blick von der Krautwurst einbrachte. (inzwischen hatte Ransome für
sich entschieden, Kilian Krautwurst nur noch die Krautwurst zu nennen: War einfach leichter zu merken)
Edi ordnete seine Gedanken.
Patty war also beim Liebesspiel gestorben. Edi´s schlüpfrige Fantasie
wuchs ins Unendliche. Vielleicht hatten sie es auf dem Küchentisch
getrieben … oder bei einer rasenden Autofahrt auf dem Highway
SixtySix – wobei … der Alte war neunundsiebzig … wenn die
Synapsen knacksten … und die Bandscheiben jodelten …
Oder – das war wunderbar! – Patty war in der Badewanne
ersoffen … ertränkt im Liebesrausch … an den Handgelenken
rosa Handschellen mit Glöckchen dran.
Der investigative Schmieren-Journalist sah eine neue Schlagzeile
vor sich am Horizont aufsteigen:
„Komponistenliebchen stirbt am Taktstock des Meisters“
Jetzt brauchte Edi nur noch die letzten Worte aus Pattys feuchtem
Mund.
„Hat sie noch was gesagt, bevor sie über den Jordan ging?“
Krautwurst bekam einen Schluckauf. Zwischen zwei Hicksern
stieß er mühsam hervor:
„Miau!“
Edi glaubte, den Druckfehlerteufel rülpsen zu hören:
„Wie bitte?“
„Miau!“, wiederholte die Krautwurst und hickste abermals.
„Ich denke, es handelte sich um eine Frau?“, sagte Edi
tonlos.
„Sie war mir viel mehr als eine Frau“, trenzte Krautwurst: „Patty
war eine Katze.“
Edi kam in diesem schrecklichen Augenblick nicht umhin, an
den düsteren Satz des Schwarzen Geigers Niccoló Paganini zu
denken: „Veni, Vidi, Violini - Er kam, sah und vergeigte.“ Vielleicht stammte der Satz auch von David Oistrach – sei´s drum.
Edi Ransome kannte sich nicht mehr aus. Unruhig schweifte sein Blick
über die Grabsteine.
Die Karre lag im Dreck. Das war so klar wie Schifferscheiße.
Jetzt musste man das Beste daraus machen. Manchmal wurde aus
Dreck Gold. Warum nicht auch jetzt?
„Aber, verehrter Meister, soweit ich mich entsinne, sind wir hier
auf einem Friedhof für Menschen? Ich meine … der Priester,
der Sarg … der ganze gottverdammte Schmus …“
„Alles gekauft!“, ächzte die Krautwurst. „Auch die Musiker. Sie
spielten übrigens den Dritten Satz aus meiner As-Dur-
Symphonie für zwei Triangeln. Patty hat ihn immer besonders
gemocht.“
„Warum, zum Heiligen Kanonenrohr -"
Krautwurst unterbrach ihn mit schräg erhobenem Zeigefinger.
„Katzen sind tausendmal sensibler als Menschen. Es ist nicht
einzusehen, warum Patty nicht ebenso würdig wie ein Mensch
bestattet werden sollte.“
„Verstehe“, sagte Edi und verstand nichts. Machte Kunst,
machte Musik, machte Komponieren eigentlich pervers?
Edi schluckte die Fragen hinunter, sagte stattdessen:
„Ich mein ja nur, verehrter Meister Katzwurst – Krautwurst –
die ganze Schose wegen einem Katzenvieh?“
Der Journalist, gefasst auf einen Wutausbruch des Meisters,
trat einen Schritt zurück. Doch nichts geschah. Krautwurst
erwiderte von weit her:
„Ach … Edi …!“
Ransome, der gewiefte, mit allen Wassern gewaschene Zeitungs-
mann, wussste, wann einer reif war – die Krautwurst war sowas
von überreif.
„Was ist los Kumpel?“, sagte er und legte dem Meister beruhigend
die Hand auf den Arm. Die Krautwurst bemerkte es nicht.
„Patty war keine gewöhnliche Katze“, fuhr er tonlos fort: „Sie war
ein Genie auf ihrem Gebiet.“
Der Stift sauste torpedo-gleich über Edis gelben Notizblock.
„Auf welchem Gebiet denn?“
„Patty …“, der kleine Finger stak schon wieder bis zum Anschlag
im Nasenloch: „Patty hat meine Musik komponiert.“
„Ihre Musik? Komponiert?“
Nun war Edi völlig von den Socken. Er dachte an das gewaltige
Oratorium „Der Tod Lucretias“ frei nach Anton Cajetan Adlgasser.
Er dachte an die Elegie mit dem Titel „Singet all zu Ehren des Herrn“.
Gewidmet dem amerikanischen Komponisten John W. Doeney.
Für „Singet all zu Ehren des Herrn“ hatte die Krautwurst vor zwei
Jahren den begehrten, mit 300.000 Dollar ausgestatteten Großen Musikpreis der Stadt Chikago abgeräumt.
Und – so fragte sich Edi – das alles komponiert von einer ver-
dammten Katze?
Wo gab es diese grandiosen Viecher? Wo kriegte man ein solches Exemplar? Wo wurden sie gezüchtet? Musste man sie anlernen? Wie lange dauerte die Lehrzeit?
Und, vor allem: Was kostete ein derartiger Stubentiger?
Edi Ransome schob die Gedanken von sich. Die Arbeit war noch nicht
beendet. Den Stift nervös zwischen den Fingern drehend, sagte er:
„Wenn ich es recht verstehe, hat diese … dieses Viech Ihre gesamte
Musik – gemacht?“
„Na ja, nicht alles. Aber ungefähr 97 Prozent davon.“
Edi zerbiss den Stift. Sah, wie die Krautwurst verzweifelt den
Mittelfinger der rechten Hand ins linke Nasenloch rammte. Edi
meinte, die Nebenhöhlen quietschen zu hören.
Reiß dich zusammen, Edi, reiß dich zusammen!, dachte er. Und
gleichzeitig: Das kann ich nicht schreiben. Das glaubt mir keine
Sau auf der ganzen Welt.
Er spürte, wie der Pulitzerpreis in weite Fernen rückte. Mit
dem Blödsinn der komponierenden Katze konnte er keinen Hund
hinter dem Ofen hervor locken.
Edi lächelte grimmig bei diesem schrägen Vergleich von Hund
und Katze. Er pumpte Luft und sagte:
„Aber … verdammt nochmal … wie hat sie das bloß fertiggebracht?
Hat sie gesungen, gejault, gemault – oder was?“
Die Krautwurst blickte zurück in die selige Vergangenheit.
„Nein. Sie hüpfte über die Tasten. Einmal Largo, dann wieder
Prestissimo – ich brauchte nur mitzuschreiben.“
„Mitzuschreiben?“, plapperte Edi wie ein Idiot.
„Ja, mitzuschreiben. Die Anfertigung der Partitur war nur noch
eine handwerkliche Übung …“
Ein abgrundtiefer Schluchzer entrang sich seiner Kehle.
Wenn das rauskommt, dachte Edi, ist der Mann ruiniert. Körperlich
und physisch. Soviel stand fest. Man würde der Krautwurst sämtliche
Preise aberkennen, würde ihm die Ehrendoktorwürde der West-
Los-Angeles-Universität entziehen. Und man
würde ihn aus dem Internationalen Club der Komponisten raus-
werfen.
Das übersteht keine Krautwurst.
Um ihm irgendwie zu helfen, sagte Edi aufmunternd:
„Sie haben von Patty doch sicher einiges gelernt …?“
Krautwurst schüttelte traurig das graue Haupt.
„Nein, nur mitgeschrieben.“
„Heilige Scheiße!“
Während die Krautwurst sämtliche Nasenlöcher aufbohrte, rang
sich Edi eine weitere, gutgemeinte Frage ab.
„Aber Ihre Fingerchen sind doch noch in Ordnung? Ich meine,
als Klavier-Virtuose sind Sie noch immer der große Klopfer?“
Wieder schüttelte der Meister den Kopf.
„Ich habe viele Jahre die Viola Pomposa studiert.“
„Die was?“, schnappte Edi.
„Die Viola pomposa. Eine fünfseitige Bratsche …“
„Eine Ratsche?“
„Nein, Edi, eine sogenannte Tenor-Bratsche. Meine Freundin
schwärmte damals so sehr für das Adagietto aus Gustav Mahlers
Symphonie Nummer fünf, worin die Viola Pomposa vorkommt. Aus
diesem Grund erlernte ich dieses Instrument.“
„Und das Klavier?“, schnappte Edi: „Was ist mit dem Klavier?“
„Das Klavier belegte zwar das Hauptfach. Aber es lief irgendwie
nur so nebenher“, sagte Krautwurst mit brechender Stimme.
„Bis Patty kam …“, ergänzte Edi.
Es war unglaublich! Alles in allem handelte es sich um einen
riesigen Beschiss an der Musikwelt. Was hieß Musikwelt? Es
kam dem Ruin der abendländischen Kultur gleich, wenn eine
Katze Opern, Oratorien und den ganzen anderen Schamott
gemacht hatte, indem sie einfach über die Tasten eines Klaviers
gestolpert war.
Das glaubte ihm kein Mensch!
Edi sagte knapp:
„Dann können Sie also jetzt nur noch Wanderlieder rauf- und
runternudeln?“
Der berühmte Komponist und Klaviervirtuose Kilian
Krautwurst wandte sich ab, straffte sich, reckte den Kopf und
sagte mit fester Stimme:
„Vielleicht .“
Schweren Schrittes stapfte er davon. Doch eine plötzliche gewisse
Selbstsicherheit war unschwer zu erkennen. Edi sah ihm aufmerksam
nach.
Da stimmte doch was nicht! Der Bursche hatte noch etwas in der
Hinterhand.
„Was werden Sie jetzt tun?“, rief Edi ihm nach.
Da drehte sich Krautwurst plötzlich um. Überrascht bemerkte Edi Ransome das verschmitzte Lächeln, das über des Meisters Gesicht huschte.
„Patty hat jüngst Nachwuchs bekommen. Habe die Ehre!“
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